In diesem Interview erzählt Klaus Miller, Leiter des Sozialpsychiatrischen Dienstes (SpDi) des Erthal Sozialwerks in Würzburg, Bayern, von seinen Erfahrungen mit Genesungsbegleitung.


TriN: Herr Miller, welchen Mehrwert haben Arbeitgeber von Genesungsbegleitern?
Klaus Miller: Genesungsbegleiter können eine Haltungsänderung in Gang bringen, angestoßen durch die Perspektive des Genesungsbegleiters. Sie können als „Scharniere zwischen den Systemen“ dienen, Vorbilder für andere Betroffene sein. Bei Gruppenangeboten beobachte ich, dass Klienten dazu inspiriert werden sich selbst mehr zu organisieren, Selbsthilfe wird initiiert. Bei der Öffentlichkeitsarbeit, z.B. in Schulen, tragen Genesungsbegleiter zu ganz praktischer Entstigmatisierung bei, indem sie von ihren eigenen Erfahrungen berichten und offen mit ihrer Erkrankung umgehen. Und auch der Genesungsbegleiter bekommt einen Einblick in die Arbeit der Profis und kann Verständnis für diese Seite entwickeln.

TriN: Wie sind Sie auf das Thema Genesungsbegleitung aufmerksam geworden?
Klaus Miller: Ich bin seit langem Mitglied in der DGSP. Dort nahm schon lange neben der „objektiven Seite“ einer psychischen Erkrankung, also der reinen Diagnose, die „subjektive Seite“, also die Bedeutung einer Erkrankung jenseits der Diagnose für den Einzelnen, einen hohen Stellenwert ein. Zudem hatten wir als SpDi immer wieder Kontakt zur Betroffenenbewegung. Dann habe ich das Buch von Jörg Utschakowski „Vom Erfahrenen zum Experten. Wie Peers die Psychiatrie verändern.“ (Bonn 2009) gelesen und wir hatten eine Klientin, die die Ausbildung zur EX-IN Genesungsbegleiterin in Bremen gemacht hat.

TriN: Wie kam es, dass Sie zum ersten Mal eine Genesungsbegleiterin anstellten?
Klaus Miller: Wir hatten Kontakt zu einer Genesungsbegleiterin, die in Nürnberg ihre Ausbildung gemacht hatte. Ihr haben wir dann ein Praktikum bei uns im SpDi angeboten.

TriN: Wie wurde Ihr Team in den Entscheidungsprozess einbezogen?
Klaus Miller: Durch unser überschaubares Team konnten wir diese Entscheidung gemeinsam treffen. Von Anfang an waren alle involviert. Wir haben uns durch Erfahrungsberichte anderer Arbeitgeber und Erzählungen anderer Teams vorbereitet. Wir wollten einen realistischen Blick auf die Situation bekommen und haben gemeinsam überlegt, welche Bereiche für den Einsatz eines Genesungsbegleiters Sinn machen und sich anbieten würden. In diesem Prozess haben wir viel über Rollen, Rahmenbedingungen, Zuständigkeiten und ein Stellenprofil gesprochen.

TriN: Gab es vorab Befürchtungen und Ängste?
Klaus Miller: Es waren eher Überlegungen, die wir angestellt haben: Wie belastbar sind Genesungsbegleiter, was kann ihnen zugemutet werden? Gibt es viele Krankheitsausfälle? Wie werden Genesungsbegleiter bei den Klienten akzeptiert? Wie setzen wir die Schweigepflicht um? Gibt es durch einen Genesungsbegleiter Unruhe oder Chaos im System?

TriN: Wie haben sich diese Überlegungen in der Realität beantwortet?
Klaus Miller: Ausfälle durch Krankheit waren lange kein Thema, dann aber gab es eine lange Krankheitsphase. Teilweise ist der Umgang mit der Schweigepflicht schwierig, weil wir unsicher sind, wie offen wir kommunizieren können

TriN: Was können Sie anderen Arbeitgebern zum Umgang mit Krankheit raten?
Klaus Miller: Generell muss man als Arbeitgeber, wie auch bei anderen Kollegen, schauen, dass es den Genesungsbegleitern auf der Arbeit gut geht. Sie sollen sich eingebunden fühlen und vermittelt bekommen, dass auch seelische Krisen sein dürfen. Während einer Krankheitsphase ist es wichtig den Kontakt zu halten, aber ganz wichtig: die Rollen auseinander halten! Es besteht die Gefahr, dass man als Profi im Krankheitsfall schnell in die Klient-Berater-Rolle wechselt.

TriN: Welche neuen Herausforderungen gab es?
Klaus Miller: Das Ringen um die eigene Rolle bezüglich der Genesungsbegleitung war und ist oft schwierig. . Aufgrund der wenigen Wochenstunden der Genesungsbegleiterin ist sie nur wenig ins Team eingebunden. Das wäre auch bei anderen Kollegen der Fall. Nur erschwert es die Rollenfindung im Team für Genesungsbegleiter zusätzlich, die per se Thema beim Einsatz von Genesungsbegleitern ist. Außerdem stehen wir immer wieder vor der Frage: Wie gelangen bestimmte Informationen an die Genesungsbegleiterin.

TriN: Welche Aufgaben übernimmt die Genesungsbegleiterin?
Klaus Miller: Sie leitet diverse Gruppen, ist an den Teamsitzungen beteiligt und unterstützt uns in der Öffentlichkeitsarbeit.

TriN: Wie kam es zur Auswahl dieser Tätigkeiten?
Klaus Miller: Wie gesagt haben wir uns im Team Gedanken gemacht, aber vor allem gemeinsam mit der Genesungsbegleiterin überlegt, was zu ihr passt und sinnvoll ist.

TriN: Stellen Sie Veränderungen im Arbeitsalltag fest?
Klaus Miller: Bei der Öffentlichkeitsarbeit beteiligen wir inzwischen immer die Genesungsbegleiterin. Dadurch haben wir automatisch eine neue Perspektive auf die jeweiligen Themen. Außerdem erleben wir, dass Klienten bei Gruppenangeboten mehr Eigenverantwortung zeigen, z.B. selbst den Raum vorbereiten, weil sie Selbstermächtigung durch die Genesungsbegleiterin direkt vor sich sehen. Hätten wir noch mehr Stunden zur Verfügung, wären sicher noch viel mehr Veränderungen sichtbar.

TriN: Gibt es Veränderungen innerhalb des Teams?
Klaus Miller: Grundsätzlich besteht eine große Sympathie gegenüber der Idee der Genesungsbegleitung und eine deutliche Bereitschaft, die Anstellung weiter zu führen. Da unsere Genesungsbegleiterin aktuell nur für 5 Wochenstunden angestellt werden kann, sind wir bzgl. deren Einbindung ins Team etwas ernüchtert.

TriN: Welche Kriterien sind bei der Wahl eines geeigneten Genesungsbegleiters wichtig?
Klaus Miller: Die Person sollte einen realistischen Blick auf sich selbst und ihre Erkrankung haben. Sie sollte benennen können, was ihr während der Genesung gut getan hat, was schwierig war und anderen davon berichten können. Außerdem sind Basiskompetenzen wie Zuverlässigkeit wichtig. Und dann darf man sich auch überraschen lassen. Da stoßen wir auf unglaublich interessante Menschen, da hätte ich nicht im Traum dran gedacht.

TriN: Welche Voraussetzungen braucht es, ihrer Erfahrung nach, für eine gelungene Anstellung?
Klaus Miller: Alle Beteiligten sollten gut vorbereitet werden. Wichtiger als sich einzulesen ist, von anderen, z.B. über Erfahrungsberichte, zu hören wie es läuft. Im gesamten Einstellungsprozess muss es genug Personen geben, die dem Thema große Offenheit und Neugierde entgegenbringen. Das Team sollte bereit sein, sich auf Neues einzulassen und die Zusammenarbeit mit einem Vertrauensvorschuss beginnen. Die richtige Haltung ist entscheidend: Thomas Bock, Psychologe im UKE Hamburg, hat mal auf einer Veranstaltung gesagt: Durch Genesungsbegleiter wird unsere Arbeit nicht einfacher, aber vollständiger.“ Und das muss die Haltung sein. Wichtig ist, für einen guten Einstieg zu sorgen und sich zu überlegen: Wie würde ich mich als einziger Genesungsbegleiter in einem Team voller Sozialpädagogen und Ärzten fühlen? Wie würde ich mich willkommen fühlen?
Idealerweise sollte man gleich zwei Genesungsbegleiter anstellen, damit sie keine „Einzelkämpfer“ sind und sich untereinander auch austauschen können. Es sollte eine Mindestwochenstundenanzahl ausgemacht werden, ab der es Sinn macht. Über die oben genannten Basiskompetenzen hinaus sollte man vorher nicht genau festlegen, welche Aufgaben der Genesungsbegleiter übernimmt, sondern offen bleiben und die Entscheidungen gemeinsam treffen. Eine weitere Voraussetzung ist, dass es einen festen Ansprechpartner im Team gibt und ein regelmäßiger Austausch im gesamten Team stattfindet.